Vom Achtsamen Umgang mit dem Menschen

Viele von uns glauben, dass wir Teil der Natur sind. Im Endeffekt würde das bedeuten, dass es nichts umfassenderes als die Natur gibt. Was ist dann mit Seele und Geist? Viele von uns glauben auch, dass der menschliche Körper eine Maschine ist. Beide Glaubensvorstellungen führen dazu, dass wir so etwas wie Sinn oder menschliche Entfaltung hin zu einem einzigartigen Menschen, der die Welt mit sich bereichert, gar nicht zu brauchen scheinen oder sie als Luxuszugaben des Menschen betrachten, die ruhig im Keller vor sich hinmodern dürfen. Ich sehe das ganz und gar anders und darüber möchte ich mit Ihnen oder mit Dir sinnieren. Sinnieren ist so eine wunderbare Eigenschaft des Menschen 🙂

Gott sei Dank müssen wir auch dieses Rad nicht neu erfinden. So viele wunderbare Menschen wie Hesse, Heisenberg, Rilke, Schelling, A. Meyer-Abich, Dürr, Drewermann, Wilber und viele weitere haben schon früh Fäden gesponnen, quasi Brosamen ausgestreut, so dass wir die Fährte nur wieder aufzunehmen brauchen, um die Fäden in die Hand zu nehmen und weiterzuspinnen. Ich möchte eine uralte, aber hochmoderne und sogar wissenschaftlich fundierte Weltsicht in Erinnerung rufen, die unglaubliche Konsequenzen auch für unser Mensch-Sein hat, wenn wir sie in Ruhe durchdenken.

Die Rede wird unter anderem sein von Holismus, Holon, Holarchie, Holobiose und der Wendeltreppe – und dem so zerstörerischen Flachland.

Jan Christiaan Smuts war wohl der erste, der den Begriff des Holismus in die moderne Biologie und Naturphilosophie einbrachte. Er leitete ihn aus dem griechischen „hólos“ (ganz) ab. Seine Idee der Ganzheit legte er in dem 1926 erschienenen Buch „Holism and Evolution“ (deutsch 1938 (1)) dar. Aus seinen Beobachtungen schloss er, dass alles, was lebt, sich entwickelt. Prof. Adolf Meyer-Abich, der sich ausführlich mit den Konsequenzen dieser Weltsicht auseinandergesetzt hat, würdigt Smuts für diese Neuausrichtung in der Biologie: „Die Welt erscheint ihm als eine allmähliche Entfaltung fortschreitender und sich immer mehr hinaufsteigernder Ganzheiten. (…) Ähnlich wie Aristoteles in seinem Entelechiebegriff nimmt Smuts an, daß eine Entwicklung im Sinne einer ständig fortschreitenden Herausbildung immer höherer und komplexerer Ganzheiten aus weniger komplexen Ganzheiten nur durch eine von vornherein Ganzheit stiftende Tendenz in der Natur erklärt werden könne. Damit hat Smuts ohne Frage den Kernpunkt des Entwicklungsgedankens deutlich hervorgehoben. Alle mechanistischen und darwinistischen Entwicklungstheorien stimmen in der Behauptung überein, daß die höheren Organismen durch ein völlig planloses Spiel des Zufalls aus den niedrigeren Gestalten der Organismen entstanden seien. Wir werden später diesen Gedanken wieder aufnehmen und dann klar erkennen, daß nur bei der Annahme einer holistischen Grundstruktur der Welt höhere Ganzheiten aus niedrigeren entstehen können. (…) Niemals kann man aus der Betrachtung von Teilen oder Teilwirkungen die Erscheinungen des Ganzen erklären, zu dem diese Teile gehören. Nur der umgekehrte Weg ist möglich: Ganzheit ist das Urphänomen, und was Teil und Teilwirkung ist, ist erst vom Ganzen her zu begreifen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Maschinentheorie des Lebens, wohl aber eine Lebenstheorie der Maschine.“ (2)

Platt formuliert können wir daraus schon mal ableiten, dass das Leben keine Maschine sein kann und somit auch nicht der Mensch und sein Körper.

Den Begriff des „Holon“ verdanken wir Arthur Koestler, einem Wissenschaftler und Schriftsteller, der sich zeit seines Lebens dem Humanismus verpflichtet fühlte. Koestler erkannte, dass ein Teil auch ein Ganzes sein kann oder sogar ein Ganzes ist, gleichwohl es als Ganzes wiederum ein Teil eines höheren umfassenderen Ganzen sein kann. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Hören wir ihm zu: „Ein Teil, im üblichen Sinn des Wortes, ist etwas Fragmentarisches und Unvollständiges, das für sich allein keine Existenzberechtigung aufweist. Andererseits neigen die Ganzheitstheoretiker dazu, den Ausdruck „Ganzes“ oder „Gestalt“ für etwas in sich Vollständiges zu verwenden, das keiner weiteren Erklärung bedarf. Ganze und Teile in dieser absoluten Bedeutung existieren aber nicht, weder im Bereich der lebenden Organismen noch unter sozialen Organisationen. In Wirklichkeit finden wir auf mehreren Stufenebenen intermediäre Strukturen von zunehmendem Ordnungsgrad. Jede davon zeigt zwei Gesichter, die in entgegengesetzte Richtung schauen; das Gesicht, das den niedrigen Ebenen zugewandt ist, ist das eines autonomen Ganzen, das nach oben gerichtete ist das des abhängigen Teiles. Ich habe an anderer Stelle (1967) vorgeschlagen, für diese janusgesichtigen Teilganzen den Ausdruck „Holon“ zu verwenden – vom griechischen holos = ganz, mit dem Suffix –on (Neutron, Proton), das ein Teilchen oder einen Teil andeutet.“ (3) „An anderer Stelle“ meint übrigens das Buch „Das Gespenst in der Maschine“.

Ein einfaches Beispiel macht uns das bewusst: ein Bakterium ist ein eigenständiges, sich selbst organisierendes Lebewesen, das in sich ganz ist und eine Ganzheit darstellt, ein Bakterium eben. Im menschlichen Körper hingegen sind Millionen Bakterien neben Millionen Viren und Pilzen im Darm als Mikrobiom tätig, ohne die wir nicht überleben könnten. An dieser Stelle ist unser Bakterium Teil eines größeren Ganzen. Es ist Teil/Ganzes oder Ganzes/Teil. Beides, eigenständig und Teil einer Lebensgemeinschaft, ein Holon eben.

Der Inhalt des internationalen Symposions wird im Klappentext des Buches „Das neue Menschenbild“ so wunderbar zusammengefasst, dass ich ihn hier zitieren möchte, weil er – 1970 geschrieben – auch heute im Jahr 2022 genauso aktuell ist.

„Während der durchschnittlich informierte Zeitgenosse meist noch immer der Meinung ist, daß wir in einer Epoche von krassem Materialismus und Mechanismus leben (…), ist die prominente Biologie, getrieben durch ein „ständig wachsendes Unbehagen“, längst in Neuland vorgestoßen: zur Begegnung mit dem Geistigen, das den Erscheinungsformen des Lebens überhaupt, vor allem aber dem Sein und Sichverhalten des Menschen zugrunde liegt, es bewirkt und bestimmt. Das internationale Symposium, dessen Referate dieses Buch zusammenfaßt, wurde in Alpbach abgehalten. Es vereinigte 16 Wissenschaftler von Weltrang und aus den verschiedensten Fachgebieten: Biochemie, Biologie, Genetik, Neurochirurgie, Ökonomie, Philosophie, Psychiatrie, Psychologie, Verhaltensforschung. Ihre Beiträge zu einem neuen Menschenbild führen uns weit fort von einer Denkwelt, die ihr Menschenbild an den simplen Verhaltensweisen von Ratten und Würmern orientiert. Die Autoren versuchen, uns eine andere, wahrere, wesensgemäßere Vorstellung von uns selbst zu vermitteln: jeder einzelne von uns stellt ein Ganzes dar, ein „Holon“ (Koestler), ein „System“ (Bertalanffy), das durch bloße Beschreibung seiner Einzelteile und Einzelaktionen niemals erfaßt werden kann. Die spezifischen Lebensäußerungen des Menschen entziehen sich dem Zugriff mechanistischer oder animalistischer Denkmodelle und auch des Neodarwinismus, der noch die höchsten Organismen durch zufällige Mutation und natürliche Auslese erklären möchte, der Behaviorismus, der alles menschliche Tun, ja selbst die Sprache auf lineare Reiz-Reaktions-Ketten zurückführen will, die Psychoanalyse, die der menschlichen Seele ein primäres Streben nach „Gleichgewicht“ zwischen den „Kräften“ des Es, Ich und Über-Ich zuschreibt, sie alle sind nicht mehr in der Lage, die brennenden Fragen, die sich dem Menschen von heute immer gebieterischer und peinigender aufdrängen, überzeugend zu beantworten. Die Zeit des „Nichts als“ ist vorbei – wir wollen uns nicht mehr als Bündel zufällig zusammenwirkender blinder Kräfte verstehen, ein wacheres, wahrhaft modernes Denken wehrt sich dagegen, den Menschen in Erscheinung und Streben auf eine Handvoll materieller oder subhumaner Phänomene zu reduzieren. Diesem „Reduktionismus“ haben die 16 Autoren den Kampf angesagt (…).“ (3)

Bald geht’s weiter…

Literaturverzeichnis

1. Smuts, Jan Christiaan. Die holistische Welt. Berlin : Alfred Metzner Verlag, 1938.

2. Meyer-Abich, Adolf. Naturphilosophie auf neuen Wegen. Stuttgart : Hippokrates-Verlag Marquardt & Cie. , 1948. 3. Koestler, Arthur & Smythies, J.R. (Hrsg.).Das neue Menschenbild – Die Revolutionierung der Wissenschaften vom Leben (Originaltitel: Beyond Reductionism). Wien-München-Zürich : Verlag Fritz Molden, 1970.